leider wahr

N

Nvek

Gast
Ich will Euch eine Geschichte erzählen.

Eine wahre Geschichte, leider.

Es begann an einem wunderbaren Montagmorgen. Die Sonne schien mir ins Gesicht, sodass ich mich gezwungen sah, gegen neun Uhr aus dem Bett zu steigen.
Nun, was tut der durchschnittliche Student, wenn er derartig früh geweckt wird? Genau, er nimmt sich vor, den Tag zu nutzen.
Ergo benutzte ich die öffentlichen Verkehrsmittel (aber das ist eine andere Geschichte), um die Bibliothek der TUD (as wohl für Theater unterm Dach steht) zu nutzen.

Ankunft im Neubau der Sächsischen Staats- und Universitätsbibliothek (SLUB) war gegen 10 Uhr.
Als erstes musste ich einen freien Garderobenschrank finden. Nach überraschend kurzer Suche Erfolg gehabt, aber… Scheiße, kein Euro dabei. Es steht zwar dran, dass man keine Einkaufswagenchips benutzen soll, aber so was ignorieren wir als langjähriger Student. Aufbrechen kann man den Schrank immer noch.
Doch vorsichtshalber nehmen wir den aus Metall vom Sächsischen Landtag, mit Staatswappen, nicht diesen Billigramsch vom Aldi aus Plastik.

Phase II der Operation läuft an. Nach kurzer Zeit erobern wir einen Rechner mit OPAC (also Online Katalog). Besonders erwähnenswert finde ich, dass die Bücher, die ich suche, zu über 25% vorhanden sind – für die SLUB eine fabelhafte Quote.
Doch oh Graus, zu früh gefreut. Von acht Büchern, die tatsächlich im Bestand sind, befinden sich sechs im Magazin (das heißt Bestellscheine schreiben *jammer*) und eins in der juristischen Fakultät (das heißt Fußmarsch oder Verzicht, ich entschließe mich schnell für den Verzicht… [Anmerkung: Bei Gelegenheit lasse ich mir mal erklären, was die Juristen mit Hegels Vorlesung über die Geschichte der Philosophie wollen.])

Also Bestellscheine geschrieben, natürlich doppelt, also 28 Mal Benutzernummer, 14 Mal Autor und Titel, 28 Mal mein Name und Vorname. Dann zur netten Dame am Empfang. Auf freundliche Nachfrage („Wann kann ich die Bücher denn abholen?“) erfolgt die nicht minder freundliche Antwort („Wenn se da sin…“).

Also dackel ich in die Ewigkeit der Bücherregale. Nett, was wir alles haben. Aber mir hilft es nicht wirklich weiter, dass die Maschinenbauer sämtliche Ausgaben von „Du und Dein Schraubenschlüssel“ – oder wie die Zeitschrift heißt – seit 1902 haben.
Endlich, zweites Untergeschoß – Philosophie, Theologie, Slawistik, ein Münzkopierer (natürlich ist meine Copycard leer und das Aufladegerät im Erdgeschoß defekt) und jede Menge Neid und Missgunst.

Aber es scheint ein guter Tag zu sein. Immanuel Kants „Kritik der reinen Vernunft“ ist tatsächlich dort, wo man sie erwartet. Also ein Exemplar gegriffen und ab zum… Halt, lieber noch mal genau guggen.
Und wieder Mal Recht gehabt: Im Umschlag der „Kritik der reinen Vernunft“ befindet sich die „Kritik der praktischen Vernunft“. Also noch mal genau suchen – und erfolgreich sein. Aber den Arsch, der die Vertausche angefangen hat, leg ich rein. Ich stell es nämlich wieder richtig in den Schank, auch auf die Gefahr, dass es niemals wieder gefunden wird!

Noch mal schnell bei den Theologen vorbei – denn vom Regal aus sehe ich die Studentenmasse (ich weigere mich, den Begriff Menschenmasse zu benutzen, denn nach dem Benehmen erfüllt höchsten ein Viertel der Anwesenden die Kategorie Mensch) am Kopierer.

Die TRE (Theologische Realenzeklopädie) hilft mir tatsächlich weiter, obwohl es ein protestantisches Werk ist. Zur Kontrolle prüfen wir das LTHK (Lexikon für Theologie und Kirche) und stellen erneut fest, dass Protestanten sich klarer ausdrücken können. Dass lässt zwei Schlüsse zu: Katholiken sind entweder klüger und Protestanten blöder, oder aber man sollte nicht jedes zweite Wort in Latein, Griechisch oder Hebräisch in ein Buch drucken (siehe LTHK).

Schlange am Kopierer in der Zwischenzeit weiter gewachsen, aber erste Jungsemestler (also 1.– 4.) geben auf. Aber ich erinnere mich an Zeiten, an dem es keinen Kopierer gab. Viel zu weich, diese Jungstudenten. Wie hart das Leben ist, erfahren sie, wenn sie ihre erste Logikvorlesung oder ihr erstes fundamentaltheologisches Hauptseminar hinter sich haben…

Ich blättere als weiter in der TRE und stoße auf einen interessanten Artikel über mein Thema – „der ontologische Gottesbeweis bei Anselm von Canterbury“ – MIT! Querverweisen zu Kant, sogar meine Ausgabe (übrigens Reclam Verlag Leipzig, ohne Jahr, aber laut Schätzung der Bibo um 1924…).
Und Recht kurz… grade mal eine Seite. Blick zum Kopierer. Offenbar gibt es erste Tränen, aber man muss hart im Nehmen sein. Vielleicht kommt heute ja das Sondereinsatzkommando. Hoffentlich ohne Tränengas.

Also erbeute ich auf Recht unfaire Art und Weise einen Platz im Lesesaal. (Man klaut einfach den Stuhl von jemanden, der ein Buch holt und packt sich an einen der freien Tische. Übrigens möchte ich mal wissen, wieso es 150 Tische, aber nur 100 Stühle im Lesesaal gibt…)

Und frisch ans Werk, die Seite ist schnell abgeschrieben. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass meine Bücher aus dem Magazin da sein sollten. Denn laut Angabe in der Bibliotheksordnung dauert das ungefähr zwei Stunden.
Die Lage am Kopierer entspannt sich. Wie ich aber durch den Schrei des zusammenbrechenden Kommilitonen (anderes Wort für Feind) erfahre, ist nur der Toner alle. Die Masse setzt sich in Bewegung in der Hoffnung, am anderen Münzkopierer am anderen Ende der Bibo Erfolg zu haben.
Es müssen Erstsemestler sein. Und auch auf die Gefahr hin, mich unbeliebt zu machen, gehe ich an einen Infopunkt und melde, dass der Toner alle ist.
Und es geschehen noch Zeichen und Wunder – die nette Dame Ende 50 greift zum Telefon und weniger als 10 Minuten später wird eine Tonerpatrone wie eine Monstranz durch die Bibliothek zum Kopierer getragen.

Ich bin der zweite, der an die Reihe kommt. Offenbar wurde der Zusammengebrochene liegengelassen und steht nun vorne…
Aber nach einer halben Stunde und jeder Menge nützlicher Ratschläge, wie er den Kopierer dazu bringt, zu vergrößern und zu verkleinern, ist er endlich fertig.

Triumph empfinde ich, als ich meine 3 Euro für 60 Kopien loswerde. Es klappt auch, sogar die automatische Sortierfunktion. Mittlerweile muss es sich herumgesprochen haben, dass der Kopierer wieder funktioniert, denn es setzt eine zweite Völkerwanderung ein. Es ist schon blöd, dass einige Feinde... äh Kommilitonen das Maul nicht halten können.

Aber auch Arroganz ist eine Eigenschaft, die man trainieren muss, und so schreite ich mit meinen Kopien in der Hand demonstrativ die Reihen ab und werfe m.E. Recht elegant die Bücher in das Sammelregal. Der Bibo-Hiwi (also die Deppen, die dafür bezahlt werden, die Bücher dorthin zu stellen, wo sie hingehören…) guggt zwar etwas sauer, aber das ist es mir wert.

Heute scheint ein Glückstag für mich zu sein. Die Schlange an der Ausleihe (vier Damen müssen sich mit vier Rechnern in Stoßzeiten um 2.000 Studenten, in den Ferien wie jetzt um ca. 150 Studenten in der Stunde kümmern) spürt man eine merkwürdig entspannte Stimmung.
Voller Elan bitte ich um meine Bücher, um die Frage zu hören:
„Wann ham’se die denn beschdelld?“
„Heute, vor gut drei Stunden.“
„Und da glooben’se, dass die da sin…? Na, ich gugg ma…“ Sie scheint sauer zu sein, dass ich sie in ihrer Meditation mit der Bild der Frau gestört habe.

Sie kommt zurück und knallt mir …
… nein, keinen Stapel Bücher, sondern meinen Studentenausweis auf den Tisch.
Überflüssigerweise teilt sie mir mit: „Die sin noch nisch da. Komm’se morgen wieder. Oder besser noch übermorgen.“
„Äh, und warum?“
„Nu, weil das Dransbordband gabutt is. Und nu komm de Büchers nich vom Magasin zu uns hoch.“
Ich hebe beide Augenbrauen. Offenbar ahnt die Dame, welche Frage in mir hochkocht.
„Und se glooben ja wohl nisch, dass wir dausende von Büchers de Drebb’n hochschleppen.“
Ich will erwidern: „Tausende sind mir egal, ich will meine sieben, für die ich 14 Bestellscheine ausgefüllt habe.“, kann es mir aber noch verkneifen.

Ich bedanke mich für gar nichts und will die Bibliothek verlassen.
Ich stehe am Schrank und will meine Jacke und meine Tasche befreien, da sehe ich einen Sprinter vom „Transport – Manfred“ vorfahren. Offensichtlich die Knechte, die das Band reparieren sollen. Begeistert sehen die nicht aus, und nach dem Werkzeug, dass die reinschleppen (Ist das ein Schweißgerät, so ein Ding mit zwei Gasflaschen und ein paar Schläuchen?), wird das wohl ne Weile dauern.

Beim Verlassen der Bibo fällt mein Blick auf den Speiseplan.
Grützwurst – entsprechend seiner Farbe wird dieses Gericht optional „Verkehrsunfall“ oder „tote Oma“ genannt. Außerdem ist das nichts für den Vegi, der ich nun mal bin.

Also dackel ich nach Hause. Es wird wohl auf Tiefkühlpizza oder so was rauslaufen. Mal guggen, was ich finde.
Überraschenderweise bin ich nach 30 Minuten zu Hause. Nicht eine Bahn ist mir vor der Nase weggefahren.

Ich hab mich sofort hingesetzt und das erlebte aufgeschrieben.
Jetzt wird was gegessen und dann werde ich wohl weinen gehen, denn offenbar funktioniert die Telefonanlage der Uni nicht mehr, wie ich gerade feststellen durfte…
 
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